Süß wie Rock’n’Roll Auszug – Virna DePaul

Süß wie Rock’n’Roll Auszug

Shane

 

“Tritt der Schwuchtel in die Eier!“

Ja, genau das hatte jemand im Publikum geschrien, als Neil Reed und ich, zwei fast zwei Meter große Typen, die beide mehr als 100 Kilo wogen, einander im Ring umkreisten. Der Typ, von dem der unerbetene Ratschlag gekommen war, war eines der vielen Arschlöcher, die dreihundert Dollar gezahlt hatten, um im Keller irgendeines Drecklochs in L.A. einen Untergrund-Boxkampf zu sehen, bei dem alles erlaubt war und die Handschuhe gleich von vorneherein in der Umkleide blieben. Reed und ich boten heute die Abendunterhaltung, doch den Ausdruck sollte man dieses Mal vielleicht nicht allzu wörtlich nehmen. Reed und ich waren uns normalerweise ebenbürtig und in der Lage, uns gegenseitig so lange in Schach zu halten, dass wir eine nette Show lieferten, aber das war heute Abend eindeutig nicht der Fall.

Um genau zu sein: Der Typ prügelte mich grün und blau.

Als Reeds Faust mich voll ins Gesicht traf, wurde mir der Kopf in den Nacken geschleudert und ich spürte, wie die Haut über meinem rechten Auge aufplatzte.

„Was zum Teufel ist los mit dir, Ninety? Reiß dich zusammen, Mann!“

Das war eine andere Stimme gewesen, die ich da gerade aus der Menge gehört hatte. Aufmunternde Worte von einem Fan, der nicht verstehen konnte, warum ich – der ich mir meinen Spitznahmen Ninety damit verdient hatte, dass ich die meisten meiner Gegner in unter neunzig Sekunden k.o. schlagen konnte (Reed war da eine seltene Ausnahme) – mich im Augenblick an den Seilen festhalten musste, um nicht zu Boden zu gehen.

„Shane, schlag mich, du dämliches Arschloch! Was zum Teufel ist los mit dir?“, zischte Reed mich an, während er mir erneut in die Fresse schlug. Der Mundschutz flog mir aus dem Mund und ich ließ den Kopf hängen; ich war zu erschöpft, als dass ich ihn noch länger hätte hochhalten können.

Ich wusste auch, warum Reed wollte, dass ich zurückschlug. Im Publikum stand ein Talentsucher vom UFC, auch wenn das natürlich niemand offiziell zugegeben hätte. Reed befürchtete, dass der Kampf getürkt aussehen könnte, wenn er mich so leicht auf die Bretter schickte. Und dann würde der Talentsucher der Ultimate Fighting Championship ihn nicht ernst nehmen. Wieder ein Mensch, den ich enttäuschte. Die Liste wurde allmählich wirklich lächerlich lang.

Ich hatte gedacht, dass ich das heute Abend packen würde. Mir blieb keine andere Wahl. Es war mein erster Kampf seit dem Unfall vor drei Wochen und eine ganze Menge hing davon ab – mein Stolz, klar, aber viel mehr noch ging es um das saftige Preisgeld, das ich dringend brauchte, um meine jüngere Schwester Jenna aus dem Dreckloch von einem Pflegeheim zu holen, in das meine Tante und mein Onkel sie gesteckt hatten, und sie an einem besseren Ort unterzubringen.

Aber selbst das hier gelang mir nicht. In den letzten Jahren hatte ich einen Kampf nach dem anderen gewonnen, doch jetzt konnte ich kaum meine Arme heben. Sie fühlten sich an, als wären sie einzementiert und schwer wie Blei, auf meinen Gedanken lastete eine seltsame Mischung aus innerer Taubheit und Trauer. Ich bemerkte Reeds Schläge kaum noch, und ich hätte ihn am liebsten angeschrien, Schlag fester zu, du Schwanzlutscher! Schlag mich blutig! Lass mich verdammt noch mal etwas spüren! Irgendwas. Alles, nur das nicht.

Doch ich schrie nicht. Ich konnte nicht.

Die Welt verschwamm vor meinen Augen und ich spürte, wie mir das Seil, an dem ich mich festgehalten hatte, aus den Händen glitt. Ich würde das Bewusstsein verlieren und Reed sich den Titel holen, während sie mich hier rausschleppen würden wie der Verlierer, der ich wirklich war. Ich hätte mich einfach fallen lassen sollen. Es mir leicht machen. Dafür sorgen, dass er mich nicht ins Koma beförderte, denn – heilige Scheiße – das wäre ja noch echt die Krönung.

Man stelle sich nur die Schlagzeilen vor:

Bruder, der für das Koma seiner Schwester verantwortlich ist, selbst ins Koma geprügelt.

Durch die Wucht seiner Schläge wurde mein Kopf hin- und hergerissen und wenn es auch unglaublich klingen mag, so musste ich über meine bescheuerten Gedanken sogar noch lächeln.

„Warum lächelst du, Arschloch? Glaubst du etwa, das hier ist lustig? Dir wird das Lachen schon vergehen, wenn du im Krankenhaus deine Suppe durch einen Strohhalm trinkst und nicht mehr auf deine Schwestern aufpassen kannst. Sie sind jetzt schon ziemlich scharf, besonders die Jüngste. Wie heißt sie noch mal? Molly, richtig? Ich denke, ich sollte ihr mal einen Besuch abstatten, wenn du im Krankenhaus bist. Was glaubst du, wie Molly es findet, wenn ich sie über den Tisch lege und sie von hinten –“

Bei Reeds Worten wurde die Welt plötzlich gestochen scharf und bei mir brannte eine Sicherung durch. Mit einem wütenden Schrei holte ich zu einem Schlag aus, der ihn direkt in den Kiefer traf und ihn zurückstolpern ließ. Das gab mir die Atempause, die ich gebraucht hatte. Drei Sekunden später war ich über ihm und machte mir das Blei in meinen Armen zunutzen.

Ich landete einen Treffer. Dann noch einen. Und noch einen. Ehe ich mich versah, lagen wir beide am Boden. Das Brüllen in meinen Ohren war absolut ohrenbetäubend.

Der Wixer hatte geglaubt, meine Schwestern bedrohen zu können?

Nein. Niemals.

Nicht, solange ich noch einen Funken Leben in mir hatte.

Bumm, bumm, bumm.

Schweiß lief mir in die Augen oder vielleicht war es auch mein eigenes Blut, und ein glühender Schmerz zog sich von meinen Fäusten in meine Arme, doch ich konnte nicht aufhören, immer weiter auf ihn einzudreschen. Dann spürte ich, wie jemand an mir zerrte und versuchte, mich wegzuziehen, aber auch dagegen setzte ich mich zur Wehr.

„Scheißkerl!“, schrie ich im Takt mit meinen Schlägen.

Und schrie es immer und immer wieder.

Ich fluchte auf Reed – und auf mich selbst – bis ich plötzlich einen Schlag auf den Kopf bekam und alles dunkel wurde.

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