„Willst du vielleicht dem Mile High Club beitreten?“
Alles schon erlebt, dachte Cole Novak. Während er sich in seinen Erste-Klasse-Sitz lümmelte, grinste er die Rothaarige an, die diese verführerische Einladung ausgesprochen hatte. Sie hatte fantastisches Haar, pralle Lippen und Rundungen, bei denen einem fast die Augen aus dem Kopf fielen. Eine Spur zu übertrieben vielleicht, aber nichtsdestoweniger prachtvoll, mit exotisch anmutenden grünen Augen und einem recht üppigen Dekolleté.
Vor etwa einer Stunde hatte sie sich als Jessica vorgestellt. Als sie ihre Hand auf seinen Oberschenkel platziert hatte, ihre Fingerspitzen bloß Zentimeter von seinem Reißverschluss entfernt, hatte Cole den Atem angehalten, sich gefragt…gehofft… Verdammt, ein kleiner Teil von ihm betete sogar…
Aber nö. Nix. Nada. Nichts. Nullkommanichts!
So wie es bereits der Fall gewesen war, als die hübsche Flugbegleiterin vorhin mit ihm geflirtet hatte, Coles Körper – und wichtiger noch sein Herz – war einfach nicht interessiert. Jessica hatte ihn beäugt, als wäre er ihre Henkersmahlzeit, und Cole hatte sich unter ihrem heißhungrigen Blick beinahe gekrümmt. Was zur Hölle war bloß los mit ihm?
Er seufzte, stoppte ihre herumwandernde Hand mit seiner, gab ihr einen freundlichen Händedruck, dann stieß er sie sanft weg. „Danke, Schätzchen, aber ich muss passen.“ Er hätte lügen können. Irgendeine Art Ausrede erfinden können, um die Zurückweisung abzumildern, aber diese Frau schien abgeklärt genug zu sein, um sie zu verkraften.
Durch ihre Augen flackerte Enttäuschung, und sie zuckte die Achseln, während sie sich zum Fenster wandte. „Dein Pech.“
Vielleicht, dachte er. Aber er wollte einfach nur nach Hause und in sein Bett fallen – allein – doch angesichts der Tatsache, dass Cole ein alleinstehender, heißblütiger Typ von neunundzwanzig Jahren war, der es liebte, mit wunderschönen Frauen ins Bett zu gehen, war das einfach nicht richtig.
Andererseits waren schon seit geraumer Zeit die Dinge nicht mehr richtig gut für ihn gelaufen. Seit sechs langen Monaten war er nicht mehr flach gelegt worden. Zunächst war der Grund die Krankheit seiner Mutter gewesen und dass er ständig seine Zeit hatte aufteilen müssen zwischen seinem Job und der Sorge um sie. Und jetzt war es so, weil seine Mutter tot und er einfach…müde war.
Bis auf die Knochen erschöpft.
Und weil er ganz offensichtlich an einer ,Schwanzlähmung‘ litt, die nicht einmal durch die beträchtlichen Vorzüge dieser Rothaarigen geheilt werden konnte.
Dreißig Minuten später landeten sie auf dem Los Angeles International Airport. Cole verließ das Flugzeug, begab sich zur Gepäckausgabe und nahm gerade seine Reisetasche in Empfang, als er eine vertraute männliche Stimme vernahm.
Cole drehte sich um und entdeckte Luke Indigo, seinen Freund und Geschäftspartner bei FRONTLINE SECURITY. Obwohl es Samstag war, trug Luke einen schicken Anzug und schaffte es dennoch, mehr nach Raufbold denn nach Banker auszusehen. Sein Gesicht zeigte markante Züge mit stahlblauen Augen, die den Gesamteindruck seines Berufes als Bodyguard ebenso verstärkten wie Coles muskulöse Statur von einem Meter neunzig.
„Hey, Kumpel! Danke, dass du mich abholst.“ Cole hasste es, zu fliegen. Normalerweise wäre er mit seiner Harley nach San Francisco gebrettert, aber ihm war nur wenig Zeit zur Verfügung gestanden, um sich mit Auftraggebern zu treffen und seinen Freund Ryan Hennessey zu besuchen, deshalb war er stattdessen geflogen.
Sie begaben sich zum Kurzzeit-Parkplatz des Flughafens, wo Luke seinen Wagen abgestellt hatte. Als sie bei Lukes Geländewagen angelangt waren, warf Cole seine Tasche auf den Rücksitz.
„Wie geht’s Ryan denn so?“, fragte Luke.
„Er ist verliebt.“
Luke lachte. „Der ist doch schon jahrelang verliebt. Und er streitet es seit Jahren ab.“
„Tja, dieser Typ ist eben ein Dickkopf.“
Cole und Luke stiegen ein.
Ryan, ein Kumpel aus Collegezeiten, verdiente sich seinen Lebensunterhalt, indem er Feuer bekämpfte. Den Großteil seiner freien Zeit verbrachte er mit seiner besten Freundin Annie. Obwohl es zwischen den beiden, immer wenn sie zusammen waren, gehörig funkte, hatten beide zu viele Vorbehalte, ihre Freundschaft aufs Spiel zu setzen, um an dieser Situation etwas zu ändern. Dennoch…
„Ich glaube, unsere brave Annie ist nun endlich doch bereit, die Dinge zwischen ihnen zu ändern“, sagte Cole. „Momentan halten sie sich gerade in Las Vegas auf, soviel ich weiß.“
„Ein ganzes Wochenende in der Stadt der Sünde.“ Luke startete den Motor und fuhr aus der Parklücke. „Interessant!“
Cole starrte aus dem Fenster und genoss den sonnigen Junitag, wolkenlos, aber auch nicht übermäßig heiß. Gutes, altes L.A.! „Gibt es etwas, das ich wissen sollte, ehe ich montags wieder mit der Arbeit beginne?“
„Nur, dass es nicht nötig sein wird, dass du kommst.“
Cole versteifte sich. „Wie meinst du das?“
Luke seufzte. „Ich weiß, dass du nicht gern darüber sprichst, Cole, aber du solltest unbedingt das Haus deiner Mutter räumen. Rede mit den Mietern, dass du das vermietete Haus nebenan, das ihr gehört hat, verkaufen willst. Und dann…“
„Und was dann?“
„Dann nimmst du dir eine gewisse Zeit frei.“ Mit einer Handbewegung deutete Luke seine Idee an. „Schau dir die Welt an, so wie du es immer wolltest, wozu du aber wegen der Krankheit deiner Mutter nie gekommen bist. Schwing dich auf dein Motorrad und fahr quer durchs Land! Oder durchstreife Europa! Unser Geschäft boomt. Ich kann ein paar weitere Männer anheuern und—“
„Ich bin schon viel herumgereist, Luke.“ Vielleicht sogar zu viel, dachte Cole. Er war auf einer Motorradtour gewesen – nicht einmal aus geschäftlichen Gründen, sondern in seiner Freizeit – an dem Tag, als seine Mutter starb. Zugegeben, als er losgefahren war, schien sie absolut stabil zu sein, deshalb hatte er es auch nicht kommen sehen. Aber er hätte es sehen sollen. Und weil er das nicht gesehen hatte, war seine Mutter allein gestorben, ohne dass er bei ihr war.
Für mehrere lange Minuten herrschte im Auto angespannte Stille, während Luke sich auf die Schnellstraße Richtung Coles Apartment einfädelte.
„Schau, Cole, ich mache mir Sorgen um dich. Ich weiß, dass du dich schuldig fühlst, weil du am Ende nicht bei deiner Mam warst. Ich verstehe das. Aber es ist nun schon mehr als drei Monate her, seit sie starb. Fang wenigstens mit den Häusern an! Deine Mam hätte gewollt, dass du mit dem Heilungsprozess anfängst, und die beste Möglichkeit dafür scheint zu sein, ihre Angelegenheiten zu ordnen.“
Coles Kehle schnürte sich zu, als er sich vorstellte, die Besitztümer seiner Mam durchzusehen oder Papiere zu unterschreiben, um ihre Häuser zu verkaufen. „Ich bin nicht sicher, ob ich dafür schon bereit bin.“
Wahrscheinlich war Luke der einzige Mensch in Coles Leben, mit dem er so ehrlich darüber reden konnte. Seit der High School waren sie befreundet, sogar länger als die übrigen Mitglieder ihrer Gruppe, die sie während der Uni kennengelernt hatten. Luke hatte den Kampf gegen Krebs, den Coles Mutter auszustehen hatte, mit angesehen, vom ersten Augenblick der Diagnose vor dreizehn Jahren bis zum bitteren Ende, inklusive aller zwischenzeitlicher Rückfälle und Besserungen.
Cole hatte als seine Familie nur seine Mutter. Sein sogenannter Vater war eigentlich nur ein Samenspender, was Cole betraf. Seine Geburt war das Ergebnis einer kurzen Affäre seiner Mutter mit einem Mann, der stark ,im Fokus der Öffentlichkeit‘ stand – wie sie ihm später einmal erzählte. Sie hatte Cole alleine groß gezogen. Und obwohl sein ,Vater‘ ihm während der letzten fünf Jahre zu Händen seiner Mutter mehrfach anonyme Briefe geschickt hatte, hatte Cole jeden einzelnen davon zerrissen.
Außer dem einen, den er bekommen hatte, kurz nachdem seine Mam gestorben war, und der diesmal direkt an ihn adressiert war. Zwar wieder ohne Absender, aber es war dieselbe schräg geneigte Handschrift auf der Vorderseite. Er hatte den Brief in zwei Hälften gerissen und auf die Küchentheke geworfen, wo er während der letzten drei Monate verblieben war.
Er wusste, warum er den Brief nicht weggeworfen hatte. Weil er in Versuchung war, ihn doch zu lesen. Ein Teil von ihm wollte nun, da seine Mutter verschieden war, wissen, ob er noch einen zweiten Elternteil hatte, mit dem er eine Beziehung aufbauen könnte. Und das kotzte ihn verdammt nochmal an!
Seine Mutter war sein einziger Elternteil gewesen. Sein leiblicher Vater würde nicht einfach einen Freibrief dafür bekommen, sie beide damals im Stich gelassen zu haben. Nicht einmal dann, wenn es das war, was seine Mutter gewollt hatte.
„Mir fehlt sie auch, weißt du“, sagte Luke ruhig.
„Ich weiß.“
Den Rest des Weges zu Coles Apartment legten sie schweigend zurück. Es war ein elegantes Gebäude in einer trendigen Gegend. Nicht sowas wie das kleine Reihenhäuschen seiner Mam in einem der typischen Vororte am Stadtrand von L.A.. Ihm gefiel seine Wohnung, aber sie fühlte sich nicht wie ein Heim an. Auf jeden Fall nicht so wie das Haus seiner Mam sich immer angefühlt hatte. Was ja auch Sinn ergab, da er die meiste Zeit seiner Kindheit dort verbracht hatte. Aber er wusste auch, dass das Beste, das er tun konnte, wäre, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und von vorn zu beginnen—angefangen mit dem Verkauf der Häuser seiner Mutter, um dieses Geld dann in die Expansion seiner Firma zu investieren.
Luke fuhr an den Straßenrand und stellte die Automatik auf Parken, dann saß er bloß da. Erwartungsvoll. Wartend. Ließ Cole einfach nur durchatmen.
„Du hast Recht, was Mam betrifft“, gab Cole mit einem tiefen Seufzer zu. „Ich werde daran arbeiten, die Häuser so bald als möglich zu verkaufen. Das hatten wir ja sowieso immer vorgehabt, da wir das Geld brauchen, um die Geschäfte in San Francisco voranzubringen.“
„Ich habe deinen Arbeitsplan für nächste Woche schon freigeräumt. Am Montag komme ich nach der Arbeit bei dir vorbei und wir können—“
Cole hob schnell abwehrend die Hand und schüttelte den Kopf. „Ich weiß dein Angebot zu schätzen. Aber das…“ Er holte tief Luft. „Das ist etwas, das ich alleine tun muss. Außerdem bis du ja schon mit Arbeit überhäuft. Wenn du etwas freie Zeit übrig hast, dann könntest du vielleicht Eric zur Vernunft bringen.“
Luke presste die Lippen zu einer grimmigen Linie zusammen. „Er antwortet weder auf Textnachrichten noch auf E-Mails.“
„Scheiße!“ Letzte Woche hatte ein anderer ihrer Freunde von der Uni, Eric Davenport, seine Verlobte, Brianne Whitcomb, bei der Hochzeitszeremonie im Stich gelassen. Eric hatte ihnen per SMS und E-Mail mitgeteilt, dass es ihm gut gehe, er aber Freiraum brauche. Seitdem hatte er alle Verbindungen gekappt. Cole und Erics andere Freunde hatten beschlossen, Eric bis zum Ende des Monats Zeit zu lassen, um sich wieder zu fangen, dann würden sie sich auf seine Spur begeben und ihn ausfindig machen. „Er hat noch ein paar Wochen.“
„Einverstanden. Nimm’s nicht so schwer, Cole! Wenn du irgendetwas brauchst, dann ruf mich an!“
„Werde ich.“ Er öffnete die Autotür und stieg aus, dann holte er seine Reisetasche aus dem Kofferraum. Bevor er die Beifahrertür schloss, spähte er nochmal ins Auto. „Vielen Dank fürs Mitnehmen.“
Luke lächelte kurz und nickte. Als Cole die Autotür zugeknallt hatte, fuhr Luke davon.
Oben empfing Cole sein luftiges Apartment: Holzboden, offener Grundriss, wenig Möbel. Der größte Teil des Wohnbereichs wurde von einem vollständigen Satz Gewichte eingenommen – die schwarze Ledercouch war immer noch an die Wand zurückgeschoben für den Fall, dass er im Fernsehen einmal ein Fußballspiel anschauen wollte. Die Küche war winzig, reichte ihm aber. Er musste zugeben, dass die Wohnung, spärlich bemessen und eingerichtet war, doch die meiste Zeit kümmerte ihn dieser Mangel an Annehmlichkeiten nicht. Das einzige Kunstwerk der Wohnung war ein Gemälde, das er in der Galerie ARTWALK in der Innenstadt gekauft hatte. Es lehnte an der Wand, war aber noch nicht einmal aufgehängt worden. Fröhliche Farben breiteten sich von der Mitte heraus aus, wo eine junge Frau sich über einen kleinen Tisch beugte, ihr dunkles Haar fiel dabei nach vorne und verbarg somit ihr Gesicht. Geheimnisvoll…irgendwie abenteuerlich-gewagt auf unschuldige Art und Weise. Es war diese Mischung von verführerisch und süß, die Cole in ihren Bann gezogen hatte, und manchmal hielt er mit einem Bier in der Hand inne und starrte das Bild minutenlang an.
Er überprüfte das Telefon in der Hoffnung, dass Eric zurückgerufen hatte. Nichts! Nachdem er seine Tasche ins Schlafzimmer gebracht hatte, ließ er sie aufs Bett fallen und begann mit dem Auspacken. Aber währenddessen ließ ihn die Unterhaltung mit Luke über seine Mutter, ihre Häuser und sein eigenes, offenkundiges Bemühen, seinen Kummer abzustreifen, nicht los, nagte an ihm und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Er schloss die Augen und zählte im Geiste bis fünf, ehe er sie wieder öffnete.
Was er dann sah er, verursachte ein Gefühl von Übelkeit, das in seinem Magen rumorte.
Über die Jahre hatte er seiner Mutter für ihre Sammlung zahlreiche Schneekugeln mitgebracht. Als er vor ein paar Tagen diese Eine in San Francisco entdeckt hatte, so hübsch mit einer Miniatur-Golden-Gate-Bridge darin, hatte er nicht widerstehen können, sie auszusuchen. Und zu kaufen. Auch wenn seine Mutter tot war und sie niemals sehen würde.
Er hob das kleine Paket an, das in Papier eingewickelt und in eine Ecke seiner Reisetasche gestopft war, und packte es aus. Dann starrte er die kleine Schneekugel an, ihre eingefangenen, schimmernden Flocken aus glänzendem, weißem Plastik, wie sie in einen langsamen, winterlichen Tanz vollführten. Oh ja, seiner Mam hätte sie mit Sicherheit außerordentlich gut gefallen!
Was zur Hölle sollte er jetzt bloß mit einer kitschig-grässlichen Schneekugel anfangen?
„Verdammt!“ Er schleuderte die Schneekugel quer durchs Zimmer, wo die Glaskugel an der Wand zerbarst. Überall waren Glassplitter und Wasser, das an der Wand hinunterlief und sich in einer traurigen Lache auf dem Fußboden sammelte.
Luke hatte Recht. Er kümmerte sich nicht um die anstehenden Angelegenheiten. Er schlief nicht. Er hatte an nichts Interesse außer wie er von einer Mahlzeit zur nächsten kam, wobei er nur eventuell etwas halbwegs Produktives in den Zwischenzeiten tat.
Er starrte auf die Sauerei, die er verursacht hatte, dann auf die karge Einrichtung seines Schlafzimmers. Seit seinem Einzug standen immer noch versiegelte Schachteln herum, die darauf warteten, geöffnet zu werden. Dieses Apartment würde nie sein wahres Zuhause werden. Zuhause war kein Ort, sondern es war dort, wo deine Familie war.
Und der einzige Mensch, der seine Familie gewesen war, war tot.
Entgegen seiner Absicht flackerte die Erinnerung an den zerrissenen Brief in der Küche durch seinen Kopf und—
„Verdammt nochmal!“
Abrupt verließ er das Schlafzimmer, schnappte sich seinen Helm und die Schlüssel seiner Harley Sportster 883, die in der Tiefgarage des Apartmentgebäudes geparkt war. Er musste eine Tour machen, um seinen Kopf frei zu bekommen.
Fünf Minuten später raste er die Schnellstraße hinunter. Sein Motorrad unter ihm gab ihm wie so oft das herrliche Gefühl von Freiheit und Sorglosigkeit, das er jedes Mal verspürte, wenn er damit fuhr. Die Luft fühlte sich kühl und erfrischend an, umso mehr, je näher er an den Strand kam. Ungefähr eine Stunde später erkannte er die Abzweigung zum Haus seiner Mutter, und er bog scharf links ab. Nach wenigen Minuten stand er vor dem Haus geparkt, stieg aber nicht von seinem Bike ab.
Das Haus war im Stil einer Ranch gebaut, hatte drei Schlafzimmer und wurde durch eine Eiche, die im grasbewachsenen Vorgarten wuchs, betont. Irgendwann war es gelb angestrichen worden, aber nun konnte man kaum mehr von einem blassen Beige sprechen. Er hatte eigentlich die Absicht gehabt, sich für seine Mutter um das Haus zu kümmern, hatte es aber irgendwie nie geschafft, die Maler kommen zu lassen. Das Gras war schon recht hoch geworden, und einige federige Büschel Unkraut sprossen hervor. Für eine Frau wie sie, die es so sehr liebte, im Garten zu werkeln, und die ein gepflegtes Heim schätzte, wäre es beschämend, es jetzt in diesem Zustand zu sehen.
Er hatte noch keinen Fuß in dieses Haus gesetzt, seit sie gestorben war, nicht einmal nach ihrem Begräbnis. Er wusste, dass das dumm war, aber ein Teil von ihm hatte das Gefühl, dass wenn er es vermied, hineinzugehen, es so wäre, als wäre sie noch nicht wirklich von ihm gegangen.
Er blickte hinüber zum Haus nebenan, dasjenige, das seiner Mutter gehörte und das sie vermietet hatte. Sie wäre glücklich gewesen, wenn sie gewusst hätte, wie sorgsam und pfleglich damit umgegangen wurde. Seit er das Haus das letzte Mal gesehen hatte, hatte jemand zusätzlich zu den Rollläden aus den siebziger Jahren weiße Fensterläden hinzugefügt und auch einen weißen Gartenzaun um den Hof, wodurch dem hellgrauen Haus ein recht ansehnliches Erscheinungsbild gegeben wurde, wie auf der Titelseite einer Schöner-Wohnen-Zeitschrift. Auf und nahe dem Eingangsvorplatz standen diverse Terracotta-Töpfe in allen Größen, die eine Vielfalt von Kakteen und Bougainvilleen zur Schau stellten.
Bevor Mam zum letzten Mal krank geworden war, hatte sie das Haus ihres Nachbarn gekauft, weil sie sich vorgestellt hatte, dass es eine gute Investition sein könnte und sie die Miete, die sie dafür erhalten würde, als zusätzliche Altersversorgung verwenden könnte, um später einmal um die Welt zu reisen. Obwohl sie Cole auch gesagt hatte, sie wolle das Haus nicht ewiglang vermieten. Ihre insgeheime Hoffnung war, dass er, wenn er einmal bereit wäre, zu heiraten – nachdem er all die Reisen unternommen hätte, von denen er immer geträumt hatte und zu denen er bis jetzt nicht gekommen war – hier einziehen und eine Familie gründen würde.
Sie hatte sogar versucht, ihn mit ihrer Mieterin zu verkuppeln. Ein süßes Mädchen, so hatte sie sie bezeichnet. Wunderschön und auch klug. Sie hatte gemeint, sie würden perfekt zueinander passen. Cole hatte seine Mutter einfach umarmt und lachend abgelehnt. Es war ja nicht so, dass er zu haben wäre für irgendetwas Dauerhaftes. Er hatte genug auf dem Schirm gehabt durch die Arbeit und die Sorge um seine Mam. Er hatte ihr die größtmögliche Aufmerksamkeit schenken wollen in der Zeit, die ihnen zusammen verblieben war. Und er hatte gewusst, dass nach dem Tod seiner Mutter das Letzte, was er wollen würde, eine feste Beziehung sein würde, die ihn einschränken würde. Er würde dann endlich die Freiheit haben, das zu tun, was auch immer er tun wollte. Und eine nette Frau, die ein Vorstadtleben genießen würde, war auf keinen Fall in diesem Bild vorgesehen.
Schließlich startete Cole die Harley wieder und fuhr davon. Morgen früh würde er als Allererstes noch einmal herkommen und anfangen, Mams Sachen durchzusehen, versprach er sich selbst. Dann würde er beide Häuser verkaufen und das Geld dafür verwenden, FRONTLINE auszubauen. Das würde nicht leicht sein, aber momentan machte er es sich selbst nur noch schwerer.
Er fuhr ein paar Querstraßen weiter und hielt an einer roten Ampel an. Links von ihm befand sich der METRO PUB, eine schicke Bar, wo er schon manches Mal gewesen war. Er wusste, dass dort in erster Linie Geschäftsleute und Frauen verkehrten. Jedenfalls war es dort ganz anders als in LIQUID COOLED, der Kneipe, wo Cole und seine Motorradkumpel gerne abhingen, aber vielleicht war ein Drink an einem Ort voller Fremder genau das, was seine ruhelose Seele im Augenblick brauchte. Es wäre einen Versuch wert.
Cole stellte sein Motorrad auf einem Stellplatz ab, dann ging er hinein, und seine Augen gewöhnten sich schnell an das Halbdunkel. Er steuerte auf die Bar zu und bestellte ein Bier. Der Barkeeper – ein junger Typ frisch vom Campus – stellte die Flasche vor ihn hin und öffnete sie für ihn. Cole drehte sich auf seinem Barhocker herum und überblickte die Menschenmenge, während er einen Schluck trank.
So wie er vermutet hatte, war die Bar voller Leute, die vorwiegend Geschäftskleidung trugen, und das an einem Samstagabend. Er mit seiner Lederweste, Jeans und den deutlich sichtbaren Tätowierungen fiel auf wie ein bunter Hund, was durch die befremdlichen Blicke, die ihm von einigen Kunden zugeworfen wurden, auch belegt wurde.
Sein Blick fiel auf zwei Frauen, die an einem hohen Tisch nicht weit weg saßen. Die Sicht auf eine der Frauen war teilweise von zwei Leuten blockiert, aber er konnte diejenige sehen, die am nächsten bei ihm saß. Sie war wahrscheinlich so Mitte vierzig, hübsch-aussehend mit hellbraunem Haar, lässig gekleidet in Jeans und einem Baumwolltop. Ganz in der Nähe jubelten und schrien einige Kerle lautstark, während sie Darts spielten. Ihr Mangel an Koordination war ein deutliches Zeichen dafür, dass sie bereits ziemlich tief ins Glas geschaut hatten.
Eine plötzliche Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit und leitete seinen Blick zum ersten hohen Tisch zurück. Die Menschen, die seine Sicht versperrt hatten, hatten sich bewegt, und dieses Mal hatte Cole freie Sicht auf die zweite Frau, die auch locker-leger gekleidet war in Jeans und einem anliegenden T-Shirt mit Flügelärmel.
Er setzte die Bierflasche auf dem Weg zu seinem Mund mittendrin so abrupt ab, dass das Bier in der Flasche schäumte.
Die Frau war von zierlicher Gestalt, dunkelhaarig und hatte große Augen. Helle Augen. Sie war keine auffällige Frau. Tatsächlich könnten einige sie als unscheinbar bezeichnen, das aber nur, wenn sie so dumm waren, dass ihnen die köstliche Anmut ihrer perfekt symmetrischen Gesichtszüge entging. Ihre Wangenknochen waren herausragend schön. Ihr langer, graziler Hals erinnerte ihn an eine Ballerina. Und irgendetwas an der Art, wie sie mit ihrer Freundin sprach – das Aufleuchten ihrer Augen und das wilde Gestikulieren ihrer Hände – brachte ihn auf den Gedanken süß und wild.
Während Cole sie so anstarrte, rührte sich etwas in seiner Brust. Als würde die junge Frau spüren, dass er sie beobachtete, blickte sie für einen Moment herüber. Als sich ihre Augen quer durch den Raum trafen, rührte sich auch etwas in seiner Jeans, etwas, was sich seit ewigen Zeiten nicht mehr gerührt hatte. Mir nichts, dir nichts spürte er ein Ziehen unten in seinem Magen, ein rot-heißes Sehnen stieg in ihm auf und durchpulste ihn. Sein Schwanz zuckte und erwachte zum Leben, pochte auf eine Art und Weise, die ihn nach Luft schnappen ließ.
Es war eine gute Art der Atemlosigkeit, wie der erregende Rausch, den er immer dann erlebte, wenn er surfte, mit seinem Motorrad durch die Gegend bretterte oder fabelhaften Sex hatte. Dazu waren kein Rotschopf, keine Blondine und kein Versprechen von Sex im Flugzeug notwendig, um ihm all diese Dinge ins Gedächtnis zu rufen, sondern nur eine unauffällige Brünette, die ihn über ihren Drink hinweg mit jenen großen, hellen Augen aufmerksam musterte.
So wie sein Körper Mehrarbeit leistete, so tat es auch sein Verstand – von zwei verschiedenen Standpunkten aus. Der eine drängte ihn dazu, ja nichts zu verschieben – verlier keine Zeit und geh zu ihr, du Schlappschwanz!
Aber der andere Teil seines Gehirn mahnte ihn – mach dich nicht lächerlich, du bist einfach nur müde. Die junge Frau schien auch nicht die Sorte Frau zu sein, die ein Typ einfach so lässig-nebenbei mal in einer Bar aufgabelte, ausgenommen er wollte mehr von ihr als nur eine Nacht im Bett.
Und momentan hatte er keiner Frau mehr zu geben.
Ganz gewiss nicht in nächster Zukunft.
Wahrscheinlich nie.
Er musste sich darauf konzentrieren, die Angelegenheiten seiner Mam zu regeln. Die Häuser verkaufen. Mit seiner Firma expandieren. Und vielleicht noch herausfinden, was mit Eric los war.
Das reichte! Das war genug, womit er klarkommen musste.
Mit voller Absicht drehte er sich weg und gab dem Barkeeper ein Zeichen. Er würde sich noch einen Drink genehmigen. Dann würde er verdammt nochmal schleunigst von hier verschwinden!