Harte Jungs – Zwischen Hammer und Amboss Auszug – Virna DePaul

Harte Jungs – Zwischen Hammer und Amboss Auszug

Jericho

 

Es ist wirklich seltsam, die eine Woche in schwierigem Gelände unterwegs zu sein und in der nächsten leichtes Terrain vorzufinden. Ich kann mir nicht helfen, ich glaube einfach, dass das nicht gut enden wird, und das habe ich meinem Dad mehrfach gesagt. Ich habe ihm von meiner Angst erzählt, dass wir schlechten Einfluss ausüben werden, ganz egal, wie sehr wir versuchen, es nicht zu tun,und dass wir letztendlich das Leben der beiden Menschen ruinieren werden, die uns mittlerweile am wichtigsten sind.

Ich fühle mich schuldig, weil ich meine neue Stiefmutter und ihre Tochter so schätze, ebenso wie das neue Leben, das wir führen. Erst der Tod meiner Mutter ermöglichte es, dass wir hier landeten, und manchmal fühlt sich die Liebe zu meiner neuen Familie wie ein Verrat an der Frau an, die mich zur Welt gebracht und dreizehn Jahre lang großgezogen hat. Ich vermisse sie, auch, wenn sie den Großteil meines Lebens zugedröhnt war. Letztes Jahr ist sie an einer Überdosis, von was auch immer sie in dieser Woche gerade genommen hatte, gestorben. Sie wurde auf einer schäbigen alten Couch gefunden; ihren letzten Atemzug hatte sie auf einem heruntergekommenen, zerrissenen Couchkissen gemacht. Doch ich klammere mich an die Erinnerungen, die mich zum Lächeln bringen: wie sie mir eine Gute-Nacht-Geschichte vorlas, als ich klein war, oder wie sie bei meinen Basketballspielen in der Schule lachte und mich anfeuerte. Mein altes Leben bestand nicht ausschließlich aus schlechten Zeiten, aber es war einfach schlimm genug, dass ich froh bin, es los zu sein. Ich bin nicht froh, sie los zu sein, doch manchmal vermischt sich beides in meinem Kopf.

Moms Tod war ein Warnschuss für meinen Vater, und er schaffte es, clean zu werden. Er fand einen Job und arbeitete rund um die Uhr; es war, als hätte er eine Sucht gegen eine andere eingetauscht. Die Arbeit hielt ihn aufrecht. Irgendwie gelang es meinem Vater, dem Ex-Junkie, Sophie für sich zu gewinnen, eine Frau, die selbst an ihren freien Tagen Kostüme trug und deren Parfum teurer erschien als unser altes Haus.

Wir zogen bei ihr ein, noch bevor sie überhaupt verheiratet waren. Zum ersten Mal in meinem Leben wohnte ich in einem sauberen Haus mit einem sauberen Bett. Es gab weder Ratten noch Bettwanzen. Jeden Abend aßen wir am Tisch, und fast immer gab es ein selbstgemachtes Essen.

Das Beste von allem? Die zehnjährige Tochter meiner Stiefmutter, Delia, ein Sonnenschein. Sie ist das kostbarste Geschöpf, das ich je gesehen habe, mit hellbraunen Haaren und goldenen Bernsteinaugen. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der fortwährend so glücklich oder unschuldig ist wie sie. Ihr Dad ist tot, wie meine Mom, trotzdem ist es, als hätte sie niemals nur auch den kleinsten Schatten im Licht ihrer Welt erlebt.

Ich habe das Gefühl, dass ich ebenfalls Verantwortung dafür übernehmen sollte, die Dunkelheit von ihr fernzuhalten, damit sie sich ihre Fröhlichkeit und Unschuld bewahren kann. Sie zu beschützen und ihr Sicherheit zu geben, ist das Mindeste, das ich tun kann.

„Jericho, vergiss nicht, du hast gesagt, dass ich mich auch nach einem neuen Kleid umsehen darf“, sagt Delia und bringt mich in die Gegenwart zurück.

Mein Dad und meine Stiefmutter laufen mit Delia zwischen sich vor mir und halten sie an den Händen. Wir sind im örtlichen Shoppingcenter, weil ich neue Kleidung für die Schule brauche. All meine alten Sachen passen mir nicht mehr oder sind abgetragen. Als Delia zu mir zurückblickt, um sich zu vergewissern, dass ich sie gehört habe, lächele ich und zwinkere ihr zu. Sie fängt an zu kichern. „Wir werden das hübscheste Kleid finden, das es hier gibt“, sage ich.

Die Glastüren des Shoppingcenters öffnen sich und wir betreten den Essbereich. Sofort hüllt mich die kühle, saubere, frische Luft ein. Der Fliesenboden ist makellos und die Lichter sind so hell, dass es keine düsteren Ecken gibt, wo man sich verstecken könnte, doch an einem solchen Ort muss man das auch nicht.

Ich sehe glückliche Familien an den kleinen Tischen sitzen, die überall zwischen den Essständen verteilt sind, wo Platz ist. Es sieht wie eine TV-Werbung aus, in der völlig Fremde dafür bezahlt werden, sich gegenüberzusitzen, während sie ein falsches Lächeln aufsetzen und künstliche Speisen essen.

Mit vierzehn Jahren lerne ich langsam, dass es auch im wahren Leben wirklich ein paar Familien gibt, die sich freuen, einander zu sehen, und nicht nur am Set einer Fernsehwerbung.

Dann kreuzt ein Schatten unseren Weg, und ich spüre, dass mir plötzlich die Haare im Nacken zu Berge stehen. Ich sehe Rick, einen alten Drogenkumpel meines Vaters, und allein seine Anwesenheit ist eine Bedrohung, aufgrund derer ich mich sofort verkrampfe.

„Hey, Mann, lange nicht gesehen“, sagt Rick, als er auf uns zukommt. Aus irgendeinem Grund trägt er einen Anzug anstelle seiner gewöhnlichen Jeans mit Muskelshirt. Sein dunkles Haar hat er zurückgegelt und er trägt im Shoppingcenter eine Sonnenbrille. Er lächelt breit und freundlich und seine Hände sind so groß, dass sie mit Leichtigkeit Felsbrocken zertrümmern könnten. Er schüttelt meinem Dad die Hand und klopft ihm auf die Schulter.

Sie tauschen Höflichkeiten aus, und ich höre die Nervosität in der Stimme meines Vaters, doch ich weiß, dass er den Kerl nicht zum Teufel schicken wird. Mein Dad hat ein Problem damit, für sich selbst einzustehen. Und fairerweise muss man sagen, dass es Konsequenzen nach sich zieht, Leute wie Rick in der Öffentlichkeit respektlos zu behandeln, die man um jeden Preis vermeiden sollte.

„Du hast es ziemlich gut getroffen, was? Und Sie müssen die neue Mrs Grant sein“, sagt er und nimmt Sophies Hand. Sofort sehe ich meinen Dad an und fühle mich schuldig, weil ich ihn dafür verachte, dass er nicht auf der Stelle etwas unternimmt, um seine neue Frau vor Ricks schmierigen Händen zu schützen.

Aber hey, er konnte nichts tun, um Mom zu retten. Warum sollte ich glauben, dass er seine neue Frau retten könnte?

Ich nehme an, die Dinge haben sich doch nicht so sehr geändert, wie ich dachte. Doch ich rufe mir erneut ins Gedächtnis, wie gefährlich Rick ist. Dass mein Dad vielleicht klug handelt und nicht feige. Ich kann nur hoffen, dass diese Szene bald vorbei sein wird, damit wir mit unserem neuen Leben fortfahren und vergessen können, dass dieser Abschaum überhaupt existiert.

Dann tut Rick etwas Unverzeihliches.

„Was für ein hübsches kleines Mädchen“, sagt Rick und streichelt ihr über den Kopf.

„Hallo Mister“, sagt sie mit ihrer unschuldigen,leichten Stimme.

Und das reicht. Mehr ertrage ich nicht. Es ist, als wäre in meinem Inneren ein Schalter umgelegt worden. Ich denke nicht länger darüber nach, was ich tue. Stattdessen stelle ich mich vor Delia und trenne sie von diesem schleimigen Arschloch.

„Whoa, na hallo, Tiger“, sagt Rick.

„Du hast nicht das Recht, sie anzufassen“, sage ich zu ihm. „Genau genommen solltest du vergessen, dass du überhaupt weißt, wer wir sind.“ Ich nehme an, wenn mein Dad es nicht schafft, sich diesem Typen entgegenzustellen, dann kann ich es eben. Was zum Teufel sollte er einem Kind schon tun?

„Sohn“, sagt mein Dad nervös, „sei höflich.“

„Nein, das ist schon in Ordnung“, sagt Rick. Er mustert mich genau. Ich werde nicht lügen; er könnte mich zerquetschen, und das wäre es gewesen, einfach so. Ich bestehe nur aus Haut und Knochen, nachdem ich jahrelang gewissermaßen auf der Straße gelebt habe. Die Kehrseite, die er auch sehen kann, glaube ich, ist die, dass ich es irgendwie geschafft habe zu überleben, indem ich um jedes bisschen Essen und Schutz gekämpft habe.

„Du wirst groß, Junge“, sagt Rick, und ich höre einen Funken Respekt in seiner schmierigen Stimme. „Aber werd deswegen nicht übermütig!“ Er lächelt mich an, und der Blick in seinen Augen sagt mir, dass ich lieber kein Wort mehr sagen sollte. Dann dreht er sich wieder zu meinem Dad um. „Nette Familie. Pass gut auf sie auf.“

Und dann verschwindet er einfach. Als er geht, klopft er meinem Dad auf die Schulter und verschmilzt dann mit den Menschen, die das Shoppingcenter betreten und verlassen.

Erleichtert seufze ich tief, genau wie mein Dad und meine Stiefmutter. Delia nimmt einfach meine Hand und zerrt mich zu einem dieser kleinen Karussells mit nur einem Pferd. Als ich einen Vierteldollar aus meiner Tasche hole und ihr sage, sie solle aufsteigen, schaut sie mich an, als hätte ich ein Wunder vollbracht. Langsam verfliegt die übrige Anspannung in meiner Brust, die mir die Begegnung mit Rick beschert hat.

Anschließend setzen wir unsere Shoppingtour fort. Ich sorge dafür, dass wir Delias Kleid zuerst kaufen. Dann bekomme ich ein paar neue Hemden und Jeans für die Schule. Wir statten dem Schuhladen einen Besuch ab, und nachdem wir ein paar neue Boots für mich gekauft haben, machen wir uns auf den Weg nach Hause. Meine alten Schuhe werfen wir im Shoppingcenter in den Müll. Meine Stiefmutter macht auch kein Drama daraus, dass ich mir, zusätzlich zu den Hemden, noch ein paar Rockstar-T-Shirts geholt habe. Sie ist einfach froh, dass ich ein paar neue Klamotten habe, sagt sie.

Als wir nach Hause kommen, gehe ich in mein Zimmer, schnappe mir meine Kopfhörer, haue mich aufs Bett und schalte den Classic-Rock-Sender ein. Die Jungs auf der Straße haben mich zur Classic-Rock-Szene gebracht. Sie alle hören Bands wie ZZ Top und Aerosmith. Natürlich ist unser neues Zuhause ordentlich und sicher, doch nachdem ich ein selbstgemachtes Abendessen gegessen habe und ins Bett gegangen bin, werde ich manchmal ruhelos, und dann ermöglicht mir die Musik, wieder Verbindung zu diesem Teil meines Lebens aufzunehmen, indem sie diese Stimmung in mir nährt.

Als Van Halen den Klassiker „Hot for Teacher“ anstimmt, ist es, als würde ich den Bikern zuhören, die spät nachts vor meinem alten Haus herumfahren. Ich beneide diese Jungs um ihre Freiheit, insbesondere jetzt, wenn ich drinnen festsitze. Doch ich schätze, das ist ein ziemlich fairer Tausch. Bevor wir mit meiner Stiefmutter und ihrer Tochter hier lebten, war mein Leben vollkommen zerrüttet. Wenn ich also ein sicheres und gemütliches Zuhause dafür bekomme, dass ich diese Jungs aufgebe, die auf der Straße auf mich Acht gaben, ist das für mich in Ordnung.

Während ich Radio höre, schlafe ich langsam ein, wie ich es mittlerweile meistens mache, und als ich aufwache, liegen meine Kopfhörer auf meiner Stereoanlage, ein Zeichen dafür, dass einer von ihnen in meinem Zimmer war, um nach mirzu sehen. Mann, wie sich die Dinge verändert haben, denke ich mir, als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben.

Doch irgendetwas stimmt nicht.

Delia steht in meinem Türrahmen, und ich kann die Angst spüren, die sie ausstrahlt.

„Was ist los?“, frage ich, obwohl ich es gar nicht wissen will. Ich will einfach wieder einschlafen und dies einen Traum sein lassen. Das wachsende Unbehagen in meiner Magengegend sagt mir, dass ich bereits weiß, was hier vor sich geht.

Der Schatten ist zurück.

Bevor Delia antworten kann, höre ich Schreie aus dem Wohnzimmer. Ich höre meinen Dad jemanden anflehen, aufzuhören und seine Familie in Ruhe zu lassen.

„Komm her“, sage ich zu Delia und bemühe mich um eine ruhige Stimme. Sie musste sich noch nie mit solchen Dingen auseinandersetzen, und sie muss auch nicht sehen, was es mit mir macht, mich wieder damit auseinandersetzen zu müssen.

Ich schlüpfe aus dem Bett, als sie auf mich zukommt, und sehe, dass sie ihren liebsten pinken Prinzessinnen-Teddy an ihre Brust drückt. Sie weint und ich wische ihr die Tränen aus dem Gesicht. „Hör mal“, sage ich zu ihr, „ich möchte, dass du dich irgendwo versteckst. Das ist wichtig. Versteck dich, wo dich niemand finden kann, okay?“

Sie nickt.

„Wenn du das machst, verspreche ich dir, dass dir nichts passieren wird.“

„Du wirst kommen und mich holen?“, fragt sie.

„Ja.“

„Versprich es“, flüstert sie. „Versprich mir, dass du kommen und mich holen wirst.“

Der Schrei einer Frau dringt nach oben, und wir zucken beide zusammen. Delia dreht sich um, als wolle sie nach unten gehen, und ich greife nach ihrem Kinn, damit sie mich ansieht. „Ich verspreche, dass ich kommen und dich holen werde.“

„Mommy und Daddy“, sagt sie, und bei dem Gedanken, wie schnell sie meinen Dad als Daddy bezeichnet, zieht sich mein Herz zusammen.

„Ich werde sie holen. Ihnen wird nichts passieren. Ich verspreche es. Uns allen wird nichts passieren. Aber du musst dich verstecken. Jetzt gleich, damit ich gehen und ihnen helfen kann.“

Sie starrt mich eine Sekunde lang an und nickt, dann küsst sie mich auf die Wange, bevor sie zurück in den Flur rennt. Ich hoffe inständig, dass sie ein gutes Versteck kennt, denn ich habe absolut keine Ahnung, wo ich mich verstecken sollte. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich mich verstecken will. Ich bin es leid, mich zu verstecken. Ich bin es leid, wegzulaufen.

Und ich habe jetzt eine Menge Dinge, für die es sich zu kämpfen lohnt.

Ich schleiche über den Flur und folge den Stimmen im Wohnzimmer. Von meinem Standpunkt aus entdecke ich zwei von ihnen, ganz in schwarz gekleidet und mit verhüllten Gesichtern. Einer hat ein Messer. Der andere hat eine Pistole. Mein Dad und meine Stiefmutter sitzen kniend vor ihnen und sind gefesselt. Der Messertyp klebt meinem Dad den Mund mit Klebeband zu und unterbricht damit schlagartig sein Geschrei und sein Flehen.

Dann schlitzt er die Kleidung meiner Stiefmutter auf und stößt sie um auf ihren Bauch.

Zur Hölle mit diesen Typen. Ich renne in die Küche und nehme einMesser aus der Schublade.

Als ich zum Wohnzimmer zurückkehre, ist der Kerl mit dem Messer auf meiner Stiefmutter und vergewaltigt sie vor meinem Vater. Ich hatte geglaubt, so viel Grauenvolles in meinem Leben gesehen zu haben, dass ich mit allem fertigwerden würde, doch das Grauen der Szene vor meinen Augen lähmt mich.

Während meine Stiefmutter schreit und ihn anbettelt, aufzuhören, grunzt der Mann auf ihr und schnauzt sie an: „Halt einfach die Klappe und nimm es hin, Schlampe.“

Dann sieht mich mein Dad. Er versucht, trotz des Klebebands etwas zu rufen, und der Typ mit der Waffe dreht sich um und folgt seinem Blick. Er hat mich entdeckt.

„Hey, Mann, wir haben da einen kleinen Zuschauer“, sagt der Pistolentyp zu seinem Partner. „Das ist der Junge, von dem Rick uns erzählt hat.“

„Lass ihn zuschauen“, knurrt er.

Rick. Rick hat diese Kerle geschickt. Wahrscheinlich, weil ich im Shoppingcenter den Mund aufgemacht habe.

Es ist meine Schuld. Ich bin dafür verantwortlich.

Ich falle auf die Knie und übergebe mich auf den Fußboden. Offensichtlich finden das die unbekannten Männer in unserem Wohnzimmer urkomisch.

„Du bist dran“, sagt der Messertyp zu seinem Kumpel, als er aufsteht und seine Hose zuknöpft. „Ich kümmere mich um die halbe Portion.“

Ich mache mich auf etwas gefasst, dann stoße ich einen Schlachtruf aus. Ich renne auf den Messertypen zu, schwinge mein eigenes Messer und versuche, einen guten Treffer zu landen, doch er tritt einfach beiseite und lacht. Dann schwinge ich es erneut und erwische ihn am Handrücken. Er flucht und lässt seine Klinge fallen.

„Du kleiner Mistkerl!“

Ich wende mich ab, um loszurennen, als er mit der verletzten Hand nach mir greift. Seine andere Faust in schwarzem Handschuh trifft mich heftig am Kopf, und ich gehe zu Boden.

Jetzt haben sie es beide auf mich abgesehen, treten und schlagen auf mich ein, und obwohl ich versuche, zu entwischen, schaffe ich es einfach nicht. Der Schmerz strömt von allen Seiten auf mich ein, und ich spüre Blut in meinem Gesicht.

Vielleicht liegt es daran, dass ich weiß, dass dies meine letzte Chance sein wird, und ich will, dass sie wissen, dass ich es versucht habe. Ich habe versucht, ihnen zu helfen, obwohl ich versagt habe. „Dad!“, rufe ich. „Sophie!“ Doch Delias Namen sage ich nicht. Wenn ich das tue, wird sie herunterkommen, und das darf ich nicht zulassen.

Schnell hüllt die Dunkelheit mich ein, und sogar, als ich das Bewusstsein verliere, bete ich noch, dass Delia sich vor diesen Männern verstecken kann. Dass die Dunkelheit ihr fern bleibt. Dass sie sich ihr Licht und ihre Unschuld irgendwie bewahren kann, selbst, wenn wir alle tot sind.

Doch ich weiß, das wird sie nicht.

Wir haben das getan, denke ich. Mein Dad und ich hätten uns von ihnen fernhalten sollen.

Wir hätten wissen müssen, dass leichtes Terrain nicht für uns vorgesehen war, und weil wir das Schicksal herausgefordert haben, brachten wir allen, die mit uns in Berührung kamen, Dunkelheit und Tod.

 

* * *

 

Acht Jahre später

 

„Hier ist dein Drink.“ Ich reiche der Blondine, mit der ich die ganze Zeit an der Bar geflirtet habe, ihren fruchtigen Cocktail. Sie hat ziemlich deutlich gemacht, dass sie mich ficken will, und ich beabsichtige voll und ganz, ihr zu geben, was sie will, aber erst, nachdem ich getan habe, was ich tun muss, und das hat nichts mit ihr zu tun.

Ich wende meinen Blick wieder Delia zu, die mit einem Mann an einem Tisch in der Ecke sitzt, der offensichtlich ein Mistkerl ist. Sie hat sich angewöhnt, sich mit Mistkerlen abzugeben, auch, wenn der jeweilige Mistkerl immer wieder wechselt.

Ihr braunes Haar ist schwarz gefärbt und nach oben gestylt wie in den Achtzigern. Sie trägt Militärstiefel, Netzstrümpfe, einen zerrissenen Jeansrock und ein altes Mötley Crüe-Tanktop. An ihren Handgelenken baumeln mehrere Ketten.

Ich habe seit der Nacht, in der unser Leben zerbrach, nicht mehr mit ihr gesprochen. Während ich unten im Wohnzimmer grün und blau geschlagen wurde, hatte Delia das getan, was ich sofort hätte tun sollen, als sie zu mir kam und ich die Schreie von unten hörte – sie hatte den Notruf gewählt. Die Polizei war rechtzeitig gekommen, um sie vor dem zu bewahren, was die beiden Männer ihr angetan hätten, allerdings nicht früh genug, um meinen Dad und ihre Mom zu retten. Als ich im Krankenhaus aufwachte, musste ich zuhören, wie Mrs Stevens, eine Sozialarbeiterin, mir all das erzählte. Natürlich hatte ich Delia auf der Stelle sehen wollen, doch Mrs Stevens erklärte mir, dass das Jugendamt nun für sie zuständig sei. Dasselbe galt nun auch für mich, und wir würden beide in Pflege kommen. Laut Mrs Stevens würden sie versuchen, uns nicht zu trennen. Versuchen.

Doch ich hatte die Situation sofort erkannt.

Die süße Delia würde problemlos adoptiert werden. Ich allerdings würde schwer vermittelbar sein. Sie würde sich dagegen wehren, dass wir getrennt werden. Sie würde weinen, und es würde ihr miserabel gehen, während sie nach ihrem Stiefbruder verlangte, der ihr verdammtes Leben ruiniert hatte. Ich hatte es nicht geschafft, meinen Dad und ihre Mom zu retten, und obwohl ich versprochen hatte, zu ihr zurückzukommen, um sie zu holen, schien es mir zu jenem Zeitpunkt das Beste für sie zu sein, sie ihr Leben weiterleben zu lassen.

Außerdem, wenn sie herausgefunden hätte, dass mein Dad und ich verantwortlich waren für das, was passiert war, dass unser altes Leben Ricks Männer in jener Nacht in ihr Haus gebracht hatte, um ihre Mutter zu vergewaltigen und zu töten, hätte sie mich ohnehin gehasst.

In jener Nacht verließ ich also das Krankenhaus und lebte wieder auf der Straße. Egal, wie sehr ich es auch wollte, nie wieder zeigte ich mich Delia.

Doch ich konnte einfach nicht anders, als sie im Auge zu behalten.

Ich lebte ein paar Monate auf der Straße, bevor ich vom Jugendamt aufgegriffen wurde. Nach mehreren vergeblichen Pflegeversuchen kam ich schließlich ins Thornbridge-Waisenhaus. Ich bat King, den Mann, der das Waisenhaus leitete, Delia für mich ausfindig zu machen. Er stimmte zu, doch ich musste ihm im Gegenzug natürlich mehrere Gefallen tun. Da er mich und die anderen Jungs im Waisenhaus aber ohnehin unter seiner Fuchtel hatte und wir als seine Straßengang fungierten, störte mich das nicht. Tatsächlich ging es mir dort wahrscheinlich so gut, weil King das Waisenhaus auf diese Weise führte, während ich in Pflegefamilien nicht gut zurechtgekommen war. Es war hilfreich, dass ich mit einigen der anderen Jungs schnell Freundschaften schloss. Diese Jungs verstanden mich, denn sie hatten alle selbst eine beschissene Vergangenheit.

King fand heraus, wo Delia war, und seitdem beobachte ich sie. Selbst jetzt, nachdem meine Freunde und ich Thornbridge verlassen und ein neues Leben begonnen haben, was einen Eid beinhaltet, ein sauberes Leben zu führen und die Nailed-Werkstatt zu eröffnen, habe ich nicht aufgehört, aus der Ferne ein Auge auf Delia zu werfen. Ich hoffe immer noch, dass ich eines Tages einen Funken ihres Lichts erblicken werde und mich vergewissern kann, dass es ihr gut gehen wird.

Aber es wird ihr nicht gut gehen. Nicht, wenn sie auf dem Weg bleibt, den sie momentan eingeschlagen hat.

Sie ist gerade achtzehn geworden, und in den letzten Jahren hat sie einen Kreislauf aus Selbstzerstörung und Verdorbenheit durchlebt. Ich habe zugesehen, wie sie erwachsen wurde und zugrunde ging, doch es wird schlimmer, und das kann ich so nicht weitergehen lassen. Ich blieb fern, obwohl ich sah, wo sie hineingeriet. Ich glaubte, egal, wo sie landete, es konnte nicht schlimmer sein als das, was passieren würde, wenn ich wieder auftauchte.

Ich habe sie verflucht. Ich habe ihr Leben ruiniert.

Doch ich muss etwas unternehmen, selbst, wenn ich dafür etwas tun muss, wofür sie mich mit Sicherheit für immer hassen wird, falls sie das nicht ohnehin schon tut.

Und ich muss es jetzt tun.

Ich leere mein Bier und sage der Blondine, dass sie tun soll, was ich ihr gesagt habe, bevor ich aufstehe und näher zu Delias Tisch gehe, doch ich halte immer noch Abstand.

Trotz der dunklen Klamotten und der Glam-Rock-Haare, die auf ein hartes Leben hinweisen, sieht sie immer noch süß aus. Sie ist definitiv kein kleines Mädchen mehr. Sie hat eine schöne Stimme und ein berauschendes Lachen. Ihr Gesicht ist älter, doch die Dinge, die sie sich selbst zugemutet hat, haben es noch nicht beeinträchtigt.

Ich weiß, dass ich nicht hinsehen sollte, doch ihr Tanktop hängt locker an ihrem Körper und ich erhasche einen Blick auf den Träger ihres schwarzen Spitzen-BHs. Mein Blick wandert hinab zu den Netzstrümpfen, die ihre Beine umschmeicheln. Ich will sie nicht mehr nur beschützen und auf sie aufpassen. Schon seit ein paar Jahren nicht mehr. Während ich sie beobachtete, habe ich gesehen, wie sie sich zu einer Frau entwickelt hat.

Einer Frau, die ich will.

Ich will ihre Brüste sehen, die sich unter dem Top verbergen. Ich will wissen, wie sie sich unter diesem Rock anfühlt. Ich will ihren kleinen Liebhaber, oder wer auch immer er ist, von seinem Stuhl werfen und sie über den Tresen beugen. Es ist schrecklich, doch ich kann einfach nur daran denken, wie sie aussehen würde, mit ihrem Körper unter mir, während sie zu mir aufblickt.

Sie ist so in ihr Gespräch vertieft, dass ich schwören könnte, dass sie mich mehrfach direkt ansieht, ohne mich überhaupt zu sehen.

Ich muss mich daran erinnern, dass ich heute Abend nicht hierhergekommen bin, um mich in ihr Leben einzubringen. Ich bin hergekommen, um sie zu retten. Vor ihrem Leben und vor mir. Ich bin hergekommen, um ihr einen Ausweg anzubieten. Würde ich das tun, was ich wirklich will, würde sie das nur noch tiefer in die Scheiße ziehen.

Als ich wieder hinsehe, nimmt sie gerade einen Zug von dem Joint, den ihr Freund für sie gedreht hat. Ihre weichen Lippen legen sich um die Spitze und ich sehe zu, wie sie den Rauch inhaliert. Es sollte nicht so verdammt sexuell aussehen. Ich sollte sie beschützen und nicht missbrauchen, doch ich kann nur darüber nachdenken, was dieser Mund gerade noch tun könnte. Und sie sieht so aus, als wäre sie gut darin.

Ich höre zu, während sie und ihr Freund ein wenig flirten. Doch dann hört es sich plötzlich nicht mehr nach Flirten an.

Nein, sie flirtet definitiv nicht, und als ich sehe, dass der Typ, mit dem sie hier ist, sie derb anfasst, verliere ich die Beherrschung und schnelle auf sie zu, fest entschlossen, den Kerl Stück für Stück auseinanderzureißen.

 

* * *

 

Delia

 

Gerade sitze ich mit Rowan da und lasse meinen Charme spielen, weil er mein bester Kontakt ist, um zu trinken oder high zu werden, und er hat immer den besten Stoff. Und im nächsten Augenblick legt er seine Hand auf mein Knie und schlingt seine Finger in meine Netzstrümpfe, die meine Beine von den ausgefransten Rändern meines verwaschenen Jeansrocks abwärts bedecken.

„Komm schon, Mann, bleib cool“, sage ich zu ihm, als ich seine Hand wegschiebe.

„Oh, wir sind doch cool, weißt du, Baby“, protestiert er, als er sich noch weiter nach vorn beugt und seine Hand meinen inneren Schenkel entlanggleiten lässt.

Ich drücke ihn an den Schultern weg. „Komm schon, Rowan, nicht hier“, sage ich.

„Ich will dich schon so lange, Delia. Und ich bin noch nicht dazu gekommen, dir dein Geburtstagsgeschenk zu geben, Baby“, haucht er bettelnd in mein Ohr. Sein Atem fühlt sich heiß an in meinem Nacken und ich spüre das Verlangen, das aus seinem Mund strömt. Ja, ich bin gerade achtzehn geworden. Nein, ich will kein Geschenk von Rowan. Außerdem habe ich gehört, dass sein Geschenkansteckend ist.

Verdammt! Seine Finger reiben an meinem schwarzen Baumwollslip. So widerlich.

„Lass los“, sage ich zu ihm und drücke ihn fester weg.

„Das werde ich“, verspricht er, „in deiner süßen kleinen Muschi.“

Mit aller Kraft schaffe ich es schließlich, ihn wegzustoßen. „In deinen Träumen vielleicht“, fauche ich, und Rowans Gesicht verzieht sich, wie ich es noch nie gesehen habe. Angst und Beklemmung, diese beiden Emotionen, die ich ständig unter Kontrolle halten muss und aufgrund derer ich überhaupt erst so viel trinke und high bin, brechen über mich herein.

„Rowan, ich will nicht –“

„Mich interessiert nicht, was du willst, du verdammtes, aufreizendes Luder“, zischt er. „Aber wenn du mehr von dem willst, was ich im Angebot habe, dann wirst du alles nehmen müssen.“ Er packt meinen Arm und zerrt mich zu sich, sein Griff ist so fest, dass ich automatisch vor Schmerz nach Luft schnappe.

Als er plötzlich heftig von mir weggerissen wird, falle ich fast von meinem Stuhl, weil er mich immer noch festhält. Im nächsten Augenblick liegt er am Boden, und wer auch immer ihn fortgerissen hat, schlägt ihm gerade ins Gesicht. Mehrfach.

„Was zum Teufel?“, flüstere ich. Ich werfe Odie, der Kellnerin, die verschwunden und dann plötzlich wieder aufgetaucht war, einen flüchtigen Blick zu, doch sie zuckt nur mit den Schultern und schüttelt den Kopf.

Wie auch immer. Ich hau ab.

„Hier, kümmer dich darum.“ Ich gebe Odie das Gras, und es verschwindet in ihren tüchtigen Händen.

Ich fange an, mir meine Sachen zu schnappen und alles in meinen Rucksack zu werfen, doch bevor ich aufstehen und zur Tür hinaus verschwinden kann, kommt er zurück.

Mein Held.

„Du willst weg?“, dröhnt seine Stimme durch den kleinen Raum.

Ich starre den Mann vor mir an, dann zu Rowan, der  zusammengerolltmit blutigem Gesicht auf dem Boden liegt, und dann wieder zu dem Mann, der ihn verprügelt hat.

Er ist angsteinflößend aber heiß, mit struppigen dunklen Haaren und schokoladenbraunen Augen. Er trägt eine Lederweste mit zahlreichen Aufnähern, ein einfarbiges schwarzes T-Shirt, Jeans und schwarze Boots. Sein Kinn ist kräftig und stoppelig, und er ist muskulös gebaut aber drahtig. Und er kommt mir furchtbar bekannt vor…

Ich muss blinzeln, als mir klar wird, wer er ist. Ein Geist aus meiner Vergangenheit.

Ein Bastard, der geschworen hatte, mich zu holen, und mich stattdessen im Stich ließ, als ich ihn am meisten brauchte.

„Der verfluchte Jericho.“ Ich lasse meinen Rucksack fallen. Ich habe ihn seit acht Jahren nicht gesehen, und er taucht einfach so aus dem Nichts auf, tut so, als wäre er mein Ritter in schimmernder Rüstung, prügelt meinen Dealer windelweich und bringt damit meine Quelle zum Versiegen. Was soll denn die Scheiße?

„Hey, Kleine“, sagt er, als wäre es zu viel verlangt, sich an meinen Namen zu erinnern, obwohl er sich benimmt, als wäre kaum Zeit vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.

„Ich bin kein kleines Kind mehr“, stelle ich klar.

„Du bist schon eine Weile kein Kind mehr“, stimmt er zu. „Aber so, wie ich dich als Kind kannte, hätte ich nie gedacht, dass du einmal so werden wirst.“

Ich habe ihn nicht gesehen, seit ich zehn war. Weil er mich zurückließ. Er nahm nicht einmal an der Beerdigung unserer Eltern teil. Und jetzt bildet er sich ein, dass er über mich urteilen könne?

„Fick dich, Jericho“, herrsche ich ihn an.

Seine Augen verengen sich, und er beißt die Zähne zusammen, bevor er seinen Gesichtsausdruck sichtlich entspannt, als hätte er gerade bis fünf gezählt und würde jetzt versuchen, nicht die Geduld zu verlieren.

Das reizt meine Nerven nur noch mehr. „Du denkst also, du kannst einfach auf mich zukommen, nachdem du acht Jahre lang nicht da gewesen bist, und erwarten, dass ich dich lächelnd frage, wie es dir ergangen ist? Und spinnst du eigentlich? Du hast gerade einen Freund von mir verprügelt.“

Er funkelt Rowan wütend an. „Sah aus meiner Perspektive nicht besonders freundschaftlich aus. Du hast nein zu ihm gesagt, Delia, und er hat nicht hingehört. Er verdient, was er bekommen hat. Du solltest deine Freunde klüger wählen.“

„Moment mal, folgst du mir etwa?“ Ich schaue mich um, ob noch jemand mit ihm hier ist, und mein Blick schweift kurz zu einer kurvigen Blondine an der Bar, die zu uns herübersieht. „Wie lange stalkst du mich schon?“

Er seufzt und fährt sich mit der Hand über sein stoppeliges Kinn. Ich bin hier, um dir etwas zu geben.“ Er wirft ein Geldbündel auf den Tisch.

„Was soll der Scheiß?“ Normalerweise schmeißen Kerle einer Frau nur aus einem Grund Geld vor die Füße, und zwar… na, das kann man sich denken.

„Das ist Bargeld, Delia“, knurrt er.

„Was du nicht sagst, Sherlock. Und wofür?“

„Es ist für dich. Ich will dir helfen.“

Ich lache bitter. Ich will sein Geld nicht. Ich brauche es nicht einmal. „Jetzt willst du mir helfen? Du hast mich im Stich gelassen. Du hast versprochen, dass du mich holen würdest, Jericho. Du hast es versprochen!“

„Ich habe auch versprochen, dass alles gut werden würde. Dass ich deine Mom und meinen Dad retten würde. Sieh dir an, was passiert ist! Ich habe dich verlassen, Delia, weil ich dachte, dass du ohne mich besser dran wärst.“

Ich schüttle ungläubig den Kopf. „Besser? Ich habe in jener Nacht meine Mom verloren. Und die eine Person, von der ich erwartet hatte, dass sie noch da wäre, wenn sich der Staub gelegt hätte, verschwand einfach. Ich hatte keine Möglichkeit, dich zu finden. Ich konnte nicht einmal wissen, ob du okay bist oder irgendwo tot in der Gosse liegst. Was geschehen ist, war ein Alptraum, doch wir hätten einander helfen können, darüber hinwegzukommen. Stattdessen bist du einfach…“ Jetzt sprudelt alles aus mir heraus. Ich hätte nie gedacht, dieses Arschloch noch einmal wiederzusehen, und doch steht er hier vor mir und überreicht mir Geld, als wolle er sich aus meinem Leben freikaufen. Verdammt, er war doch nicht mal in meinem Leben, also was will er sich erkaufen?

„Nimm das Geld, Delia. Reiß dich zusammen. Geh wieder zur Schule. Du wolltest mal Tierärztin werden. Mach das. Aber du kannst diesen Pfad nicht länger einschlagen. Ich habe bereits gesehen, was sich darauf befindet, und ich werde nicht zulassen, dass du ihn bis zum Ende gehst.“ Er nimmt seine Hand von dem Geld und setzt zum Gehen an.

Ich bin so stinkwütend auf ihn. Ich bin wütend, wie er plötzlich wieder in meinem Leben aufgetaucht ist, versucht, mir Geld zu geben, und davon faselt, dass ich ohne ihn besser dran sei. Doch als ich sehe, wie er sich von mir entfernt, bekomme ich Panik. Das ist Jericho. Der Junge, in den ich einst so vernarrt war.

Ich taumle auf ihn zu, greife nach seiner Hand und ziehe ihn zurück. Diesmal kann ich ihn nicht entkommen lassen. Dies ist der Moment, von dem ich jahrelang geträumt habe, der Moment, in dem er als Mann zu mir kommt, nicht länger nur als der ältere Bruder, den ich nie wirklich hatte.

Als Kind hatte ich keine Ahnung von Lust, doch in den darauffolgenden Jahren habe ich von all den Szenarien geträumt, die ihn zu mir zurückbringen würden, und als ich älter wurde, wurden diese Träume sexuell. Ich habe darüber fantasiert, wie er als Mann aussehen würde, und meine Vorstellungen waren ziemlich zutreffend. Er hat noch immer diese fantastischen dunklen Augen und das dunkle Haar, und ich kann ihn mit Leichtigkeit mit dem Mann vereinbaren, der mich in meinen Träumen geküsst hat. Mich liebkost hat. Mich gefickt hat, bis ich nur noch daran denken konnte, wie er sich in mir anfühlt und wie er in der Lage war, den ganzen Mist in meinem Leben auszublenden, bis ich das Licht wieder sehen konnte.

Mein Blick sucht in seinem Gesicht nach einem Zeichen, ob er vielleicht dasselbe empfindet wie ich, dass er sich vielleicht nach mir sehnt, doch seine Miene ist wie versteinert. Während ich seine Hand halte und seine raue Haut spüre, erfassen mich dennoch die Wellen des Verlangens, die ich sonst immer nur in meinen Träumen spüre.

Er ist mir so nah, doch trotzdem zu weit weg. Ich ziehe an seiner Hand, damit er näher kommt. Wir sind nicht der große Bruder und die kleine Schwester, die wir sein sollten. Ich möchte ihm sagen, wie sehr ich mir gewünscht habe, dass er zu mir zurückkommt. Allerdings bin ich so wütend und so verängstigt, dass mir die Worte einfach nicht über die Lippen kommen. Ich kann ihm nicht sagen, wie sehr ich ihn bei mir haben wollte.

Wenn er nicht davor weggelaufen wäre, was uns zugestoßen war, hätte er hier sein können, um mir die Dinge beizubringen, die ich auf die harte Tour von Mistkerlen wie Rowan lernen musste. Ich weiß, dass Jericho behutsam gewesen wäre. Er hätte auf mich aufgepasst, anstatt mich auszunutzen.

„Wo willst du hin? Geh nicht wieder weg, Jericho. Komm mit mir. Lass uns zusammen neu anfangen, nur wir beide, so, wie es von Anfang an hätte sein sollen“, flehe ich ihn an.

Er zieht seine Hand weg und tritt einen Schritt zurück. „Ich kann nicht, Delia. Ich kann nicht deinen Babysitter spielen. Du musst das allein schaffen. Ich habe mein eigenes Leben.“

Dann kommt die Blondine von der Bar auf ihn zu. Sie stellt sich genau zwischen uns und steht mir im Weg, während sie sich nach vorn beugt und ihn küsst. Es ist ein tiefer, langer, besitzergreifender Kuss. Sie erhebt Anspruch auf ihn, direkt vor meiner Nase, und er geht darauf ein, legt seine Hand auf ihren Hintern und drückt zu. Er zieht sie an seine Hüfte und reibt sich an ihr.

Ich habe das Gefühl, einen Dolch ins Herz zu bekommen. Ich habe das Gefühl, ich würde sterben.

Ich hätte es wissen müssen. Als er auftauchte, konnte ich ganz flüchtig das Licht wieder erkennen, doch nun ist es fort.

Jericho löst sich schließlich von der Blondine, um anschließend allerdings seinen kräftigen Arm um ihre Taille zu legen und sie fest an sich zu schmiegen. „Pass auf dich auf, Delia.“ Gemeinsam gehen sie zur Tür.

Und wieder verschwindet Jericho, ohne einen Blick zurück, aus meinem Leben.

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